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Schieflage

Elf Vertreter aus Baubranche, Politik und Verwaltung diskutierten am 9. März 2018 in München den Mangel an leistbarem Wohnraum in Deutschland.

Investoren aus aller Welt stecken derzeit ihr Geld in den deutschen Immobilienmarkt. Die Umsätze schnellen nach oben und das Preisniveau bei Wohnungen und Grundstücken steigt rasant an. Die Schattenseite des Booms: Es mangelt an bezahlbarem Wohnraum in den Grossstädten der Bundesrepublik – trotz reger Bautätigkeit. Das droht über kurz oder lang den sozialen Frieden zu gefährden. Grund genug für das Büro für Architekturkommunikation plan A, am 9. März 2018 Architekten, Investoren, Politiker, Beamte und Geisteswissenschaftler zur Konferenz Architecture Matters nach München einzuladen, um gemeinsam über Immobilienbranche und Architektur nachzudenken.

 

Text: Hannah Knoop – 25.3.2018
Bilder: Tanja Kernweiss

 

Selten beraten Architekten, Developer und Politiker gemeinsam über die Probleme auf dem Immobilienmarkt und mögliche Lösungsansätze. Mitunter erscheinen sie vielmehr als Antagonisten und schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Doch an der Konferenz Architecture Matters, die am 9. März 2018 in München stattfand, sollten sie offen und konstruktiv miteinander sprechen. Sie zeigten ihre Perspektiven auf zwei drängende Fragen: Warum fehlt es in Deutschlands Grossstädten trotz emsiger Bautätigkeit an erschwinglichen Wohnungen? Und welche Massnahmen könnten Abhilfe schaffen?
Dieser Bericht bespricht in chronologischer Abfolge einzelne Vorträge und Paneldiskussionen und gibt eine Übersicht über die unterschiedlichen Standpunkte der Referenten.

 

Mehr Einfluss für Architekten und Nutzer
Reinier de Graaf war der einzige im Büroalltag steckende Architekt auf der Architecture Matters-Bühne. Für OMA begleitet er Grossprojekte auf der ganzen Welt. Architektur, davon ist De Graaf überzeugt, ist ein «Symptom» wirtschaftlicher Entwicklung. Ihn treibt die Frage um, für wen wir eigentlich bauen. Für Wirtschaft und Profit oder die Menschen? Das Kernproblem sei, dass Entwickler Gebäude nicht als Wohnraum, sondern als Investition sehen und Architekten viel zu wenig Einfluss im Bauprozess und der Immobilienbranche haben. De Graaf hofft, dass sich dies künftig ändert und hat daher in seinem neuen Buch Four Walls and a Roof. The Complex Nature of a Simple Profession seine Erfahrungen mit Developern, Politikern und Oligarchen niedergeschrieben. Die Aufsatzsammlung erzählt Geschichten vom schmerzhaften Scheitern, soll Gestalter für die wahren Machtverhältnisse sensibilisieren und wachrütteln. Aber nicht nur die Position der Architekten möchte De Graaf gestärkt sehen, auch sollen die Nutzer mehr in den Planungsprozess einbezogen werden. Bürgerbeteiligung sei dabei ein möglicher Weg. Wichtig ist laut De Graaf, die Nutzer als gesundes Gegengewicht zu Immobilienentwicklern und Architekten in Stellung zu bringen.

 

Rufe nach der Politik
De Graafs Frage, für wen eigentlich gebaut werde, wurde im nächsten Panel weitergespielt: Nach kurzen Inputreferaten diskutierte der Vorstandsvorsitzende der German Estate Group (GEG) Ulrich Höller mit dem Sozialwissenschaftler Andrej Holm sowie Münchens ehemaliger Stadtbaurätin Christiane Thalgott.
Höller erläuterte zunächst die Geschäftsbereiche der GEG und ihre opportunistische Investmentstrategie: Die Gruppe betreibt Projektentwicklung genauso wie Immobilienerwerb und -instandhaltung. Als konkretes Projekt stellte er das MainTor in Frankfurt (2016) vor. Die Gebäude am Mainufer mit Wohnungen, Gastronomie und Büros seien ein Beitrag zur Durchmischung des Quartiers, so Höller. Damit bezieht er sich auf eine Diversität der Nutzungen. Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten anzusprechen war nicht das Ziel der GEG. Das provozierte in der anschliessenden Diskussion kritische und teils polemische Fragen nach seinem Verantwortungsbewusstsein. Höller antwortete, dass die hohen Bodenpreise in Innenstadtlagen Projekte für Bewohner mit niedrigen Einkommen für private Entwickler wirtschaftlich uninteressant machten. Schuld an der Preissteigerung ist nach seinem Dafürhalten die Zinspolitik in Folge der Finanzkrise, die verschiedenste Investoren auf den Immobilienmarkt treibe, da andere Anlagemöglichkeiten nicht mehr interessant seien. Höller schätzt, dass dabei mittlerweile 60 bis 80 Prozent des Kapitals aus dem Ausland stammen. Dies führe zu einem enormen Bau- und Spekulationsboom, zumal viele bereits ein Ende des Wachstumszyklus erwarten, fuhr er fort. Es sei naiv zu glauben, Developer würden freiwillig rote Zahlen schreiben – auch wenn zweifellos eine gewisse soziale Verantwortung bestehe. Was also tun? Höller fordert ein Eingreifen der Politik. Diese müsse Rahmenbedingungen schaffen, in denen es für den privaten Sektor lukrativ sei, leistbaren Wohnraum zu schaffen. Es brauche neue Regeln und eine kritische Inventur der Grundstücksvergabe. Konkret schlug Höller vor, das Erbbaurecht, also die Möglichkeit gegen die Entrichtung eines Erbbauzinses auf einem fremden Grundstück zu bauen, stärker zur Anwendung zu bringen. Leider wurde die Möglichkeit vertan hier einzuhacken und gemeinsam zu beraten, an welchen rechtlichen Stellschrauben genau gedreht werden muss, um die Bodenpreise zu senken.
Wie Höller sieht auch Andrej Holm die Politik in der Verantwortung und beklagte den Rückzug des Staates aus dem Wohnungsbau. Künftig müsse die Bundesrepublik seiner Einschätzung nach jährlich EUR 6 Milliarden in leistbaren Wohnraum investieren. Wie Politiker von SPD, Grünen und Linke derzeit fordert er eine «neue Wohnungsgemeinnützigkeit». Um dies zu untermauern, präsentierte Holm eindrückliche Zahlen: In Deutschlands Grossstädten fehlen derzeit 1,9 Millionen Wohnungen. Das führt zu einem grossen Marktdruck und zur Verdrängung einkommensschwacher Schichten aus den Städten. So hatte Berlin zwischen 2009 und 2017 eine Preissteigerung der Mieten um 235 Prozent zu verzeichnen.

 

Von Verantwortung und hohe Ansprüchen
Anders als Höller und Holm sieht Christiane Thalgott grosse Verantwortung bei den Entwicklern. Die Wohnungsnot gefährde den sozialen Frieden in Deutschland und somit letztlich das günstige Investitionsklima und deren Gewinnaussichten, argumentierte sie, also müssten sie die Initiative ergreifen. Aber auch bei den Mietern selbst möchte sie ansetzen. Früher sei es normal gewesen Untermieter aufzunehmen, doch heute wünsche jeder eine eigene Wohnung. Wenn jeder Münchner, dessen Wohnung gross genug ist, eine weitere Person aufnehme, so sagte sie provokant, dann sei die Wohnungsnot deutlich gemildert. Ehe dieser Wandel im Bewusstsein jedoch nicht vollzogen sei, müssten Gestalter und Entwickler auf die veränderten Bedürfnisse und Lebensmodelle reagieren und vermehrt kleine Wohnungen – in Verbindung mit grosszügigen Gemeinschaftsbereichen gegen die drohende Vereinsamung – anbieten.

 

Gemeinwohl und Identifikation
Wie zuvor Reinier de Graaf machte sich auch der Philosoph Julian Nida-Rümelin, welcher an der LMU München unterrichtet, für die Einbeziehung der Bürgerschaft in die Entscheidungen der Planung stark. Er argumentierte dabei mit den Stadtmodellen von Platon, Aristoteles und Immanuel Kant, denn alle drei sahen Stadt und Gemeinwohl als eng miteinander verknüpft an. Keines dieser Paradigmen sei heute obsolet geworden, so Nida-Rümelin. Die Stadt als politische Einheit dürfe folglich nicht nur von ökonomischen Interessen getrieben sein, die Identifizierung der Menschen mit ihr müsse berücksichtig und gestärkt werden. Die Bindung an den Ort sei gerade in einer Stadt wie München deutlich zu spüren und ein wichtiges Gut. Zudem plädierte Nida-Rümelin dafür, den öffentlichen Raum vor der Kommerzialisierung zu schützen, denn «er ist die Substanz von Urbanität».

 

Die Bevölkerung ins Boot holen
Doch wie kann die von Nida-Rümelin und Reinier de Graaf geforderte Bürgerbeteiligung aussehen? Erion Veliaj, Bürgermeister von Tirana, lieferte einen erfrischenden Bericht aus seiner politischen Praxis. Er sprach über die gelungene Einbeziehung der Einwohner in die Stadtplanung. Die während seiner Amtszeit vollendeten Veränderungen in Albaniens Kapitale basieren demnach auf einer an sich einfachen Strategie: Zuerst Akzeptanz schaffen und dann handeln. Als Beispiel präsentierte er etwa die von Bürgermeister Edi Rama aufgegleiste Umgestaltung des Skanderbeg-Platzes im Stadtzentrum (2012) nach den Plänen des belgischen Architekturbüros 51n4e. Um den «grössten Kreisverkehr der Welt» vom Verkehr zu befreien und in eine öffentlich bespielbaren Freifläche zu überführen musste erst dafür geworben, dem Mensch in der Planung Priorität vor dem beliebten Statussymbol Auto zu geben. Wichtiger als Geld, so Vekiajs Botschaft, ist es, sich die Unterstützung der Bevölkerung zu sichern.

 

Identifikationsangebote unterbreiten
Münchens amtierende Stadtbaurätin Elisabeth Merk und Professor Jürgen Bruns-Berentelg, verantwortlich für die Entwicklung der HafenCity in Hamburg, zeigten sich von Veliajs Vortrag beeindruckt und stimmten ihm zu. Die Basis für all die anstehenden notwendigen Veränderungen der Städte sehen sie wie Veliaj im Vertrauen und in der Beteiligung der Bürgerschaft.
Merk strich überdies die Bedeutung der Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt heraus. Daran werde in München derzeit intensiv gearbeitet, sagte sie. Architektur ist dabei für sie ein wichtiges Werkzeug. Als konkretes Beispiel nannte Merk die Umgestaltung des Werksvierteles am Münchner Ostbahnhof. Unter anderem soll hier ein grosses Konzerthaus aus der Feder des österreichischen Büros Cukrowicz Nachbaur als architektonisch-kulturelles Flaggschiff entstehen. Zwar wirkt deren gläserner Klangspeicher auf den ersten Renderings wie ein Kind aus einer anderen Zeit, doch Merk glaubt an sein Potenzial als Identifikationsangebot für die Bevölkerung.
Gegen Vorwürfe hinsichtlich der Grundstücksvergabe durch die Stadt, erhoben etwa vom Münchner Entwickler Stefan Höglmaier, wehrte sie sich. Als Beispiel nannte sie die Genossenschaft Kooperative Grossstadt, die für ihr Projekt «San Riemo» schnell günstigen Baugrund erhalten habe.

 

Kultur in der Krise
Den Abschluss der Konferenz bildete Chris Dercons Vortrag. Kraft seiner Erfahrungen in München, London und Berlin stellte der Intendant der Berliner Volksbühne zunächst eine fatalistisch anmutende Diagnose: «Die Kultur ist weltweit in der Krise.» Um diese Situation zu verbessern, schlägt er mehrere Ansatzpunkte vor: Kulturelle Infrastruktur muss als öffentlicher Raum verstanden werden. Zudem braucht es leistbare Ateliers für die Kunstproduktion. In der Stadt muss Raum für Bildung und Erziehung freigehalten werden. Schliesslich müssen die Ideen abgeschlossener Kunstformen und fester Wirkungsstätten aufgegeben und neue Allianzen geschmiedet werden. Als konkretes Beispiel dafür nannte er die Ausstellung The Boat is Leaking. The Captain Lied von der Designerin Anna Viebrok, dem Künstler Thomas Demand, dem Filmemacher Alexander Kluge und dem Kurator Udo Kittelmann, die 2017 gefördert durch die Fondazione Prada in deren Palazzo in Venedig gezeigt wurde.

 

Reformen diskutieren!
Bei der diesjährigen Ausgabe von Architecture Matters wurden vor allem Probleme benannt und unterschiedliche Sichtweisen zusammengetragen. Viele Referenten beklagten die viel zu hohen Bodenpreise in Deutschlands Grossstädten. Wiederholt wurde dabei von der Politik gefordert, aktiver zu werden und einzugreifen. Wenn sogar erfolgreiche Grossinvestoren wie Ulrich Höller nach der Verantwortung der Politik rufen und strengere Regeln einfordern, besteht wohl eine beträchtliche Schieflage. Nun müsste in einer zweiten Runde über konkrete Gegenmassnahmen diskutiert werden. Denn eine intensive Debatte hierüber wurde in München leider noch nicht geführt.

 

> Lesen Sie eine Besprechung von Reinier de Graafs Buch Four Walls and a Roof. The Complex Nature of a Simple Profession.

> Hier finden Sie eine Kritik zu OMAs Umbau des Fondaco dei Tedeschi von archithese-Chefredaktor Jørg Himmelreich.

> Mehr über die weltweite Tätigkeit von OMA lesen Sie hier.

> Lesen Sie mehr über die architektonische Entwicklung Tiranas.

> Erfahren Sie mehr über die von Elisabeth Merk angesprochene Münchner Genossenschaft Kooperative Grossstadt und ihr Projekt «San Riemo».

> In München ist derzeit eine heftige Debatte um architektonische Qualität im Gange. Freuen Sie sich auf Statements dazu von den Architekten Muck Petzet und Peter Haimerl in archithese 3.2018, Junges Bayern.

> Architektonische Lösungsansätze für die Verknappung leistbaren Wohnraums trug die Schau Together! Wie wollen wir wohnen? zusammen, die im Sommer 2017 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein zu sehen war.

> Neue Wohnkonzepte präsentierte 2016 Art of Nexus, Japans Beitrag zur 15. Architekturbiennale von Venedig.

> Im Dezember 2015 forderten Arno Brandlhuber, Sophie Wolfrum und Manuel Herz gegenüber dem Nachrichtenmagezin Der Spiegel, die Standards im deutschen Wohnbau zu senken.

> Bereits 2014 setzte sich archithese mit der Situation auf dem Immobilienmarkt und dem Spekulationsboom auseinander.

> Erfahren Sie mehr zu genossenschaftlichen Wohnformen.

> Die Anfänge des sozialen Wohnbaus bespricht archithese 8.1973.