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Gemeinsam wohnen?

Wohnraum ist heute ein teures Gut – gerade in den Metropolen steigen die Immobilienpreise und Mieten stetig an. Zugleich erleben wir einen sozialen Shift: mehr als 60 Prozent der Bevölkerung leben mittlerweile allein oder zu zweit. Gerade im Alter geht damit die Gefahr von sozialer Isolation einher. Doch welche Ideen für neue Formen des Zusammenlebens werden aktuell diskutiert? Und welche Rolle kommt Architekturschaffenden bei der Ausgestaltung und Weiterentwicklung dieser zu?
Um diese Fragen dreht sich die Schau Together! Wie wollen wir wohnen?, die vom 3. Juni bis zum 10. September im Vitra Design Museum in Weil am Rhein zu sehen ist. Vor der feierlichen Eröffnung am vergangenen Freitag fand eine Podiumsdiskussion mit Angelika Fitz (Direktorin des Architekturzentrums Wien), Kieran Long (Direktor des Zentrums für Architektur und Design in Stockholm) sowie den Kuratoren Mathias Müller und Daniel Niggli (EM2N), Andreas und Ilka Ruby statt.

 

Text & Fotos Eröffnung: Elias Baumgarten – 3.6.2017
Fotos Schau: Mark Niedermann

 

Die Schau Together! sollte ursprünglich während der Architekturbiennale 2016 in Venedig den Schweizer Pavillon bespielen. Doch das Konzept wurde von Chrsitian Kerez' Incidental Space ausgestochen, aber wenig später für Vitra weiterentwickelt: Statt ausschliesslich Schweizer Projekte zu zeigen, wurde der Fokus erweitert und auch internationale Beispiele aufgenommen.
Die Ausstellung gliedert sich in vier Teile: Zunächst wird die Geschichte des kollektiven Bauens nachgezeichnet. Die historischen Beispiele reichen von den utopischen Entwürfen Robert Owens bis zur Hausbesetzerszene der 1980er-Jahre.
Folgend werden 21 gemeinschaftliche Wohnprojekte aus verschiedenen Ländern in grossen Schnittmodellen gezeigt. Dabei sind sie so gross, dass die Betrachter keine Perspektive «von oben» einnehmen, sondern in den Strassenraum blicken. Denn, so die Behauptung der Kuratoren, die gezeigten Projekte würden wesentlich stärker mit dem «Wohnzimmer Stadt» interagieren, als die monofunktionalen Wohnbauten der Moderne.
Für die Installation nebenan wurde eine Clusterwohnung teilweise im Massstab 1:1 nachgebaut, wobei die gemeinschaftlich genutzen Räume im Zentrum stehen. Denn aufgrund des begrenzten Raumangebots des Museums wurden die Privaträume ausgelassen. Im Wohnungsnachbau hängen zudem Fotos von Daniel Burchard, der Gemeinschaftsräume in Berlin, Basel, Tokio, Wien und Zürich ins Bild rückt.
Doch welche unterschiedlichen Modelle der Konzeption und Finanzierung gibt es? Antworten darauf bietet der letzte Ausstellungsraum im ersten Stock mit Dokumenten zur Entstehungsgeschichte von fünf Projekten, darunter das Zwicky-Areal in Dübendorf und die Wohngemeinschaft Sargfabrik in Wien (1996). Spannend sind hier besonders die Broschüren mit Interviews: den Projektbeteiligten wurden dreizehn Fragen zu Konzept, Umsetzung und Architektur gestellt.

 

Sozialer Wandel
Wohnen muss neu erfunden werden, meint Kurator Andreas Ruby anlässlich der Eröffnung. Denn nicht nur das stetig steigende Preisniveau im Wohnungsbau, sondern vor allem auch der soziale Wandel und die Auflösung traditioneller Familienstrukturen verlangten nach neuen Lösungen. Der S AM-Direktor diagnostiziert ein grundlegendes Umdenken in der Bevölkerung: Man sei bereit wie lange nicht Privatsphäre zugunsten des Kollektivs zu opfern. Diese Chance gelte es nun zu ergreifen und er hoffe die Schau biete Inspiration und Anstoss für neue Projekte.

 

Zwischen Baugruppen und Spekulantenstädten
Bei der Podiumsdiskussion standen Unterschiede und Gemeinsamkeiten kollektiver Projekte im internationalen Vergleich im Rampenlicht: Angelika Fitz berichtete etwa von den Baugruppen in Wien, die derzeit mit Unterstützung des Regierungsbündnisses aus SPÖ und Grünen im Stadtsenat profitieren – eine Bottom-up-Bewegung mit Hilfe von oben. Laut Fitz wurde das strategische Potenzial der Baugruppen in der Donaumetropole von der Politik erkannt, so dass eine Schnittstelle zwischen formellem und informellem Bauen entstanden ist.
Kieran Long berichtete derweil über seine persönlichen Erfahrungen aus Schweden. Als Londoner habe er sich vor allem an gemeinschaftlich genutzte Einrichtungen gewöhnen müssen – etwa an die Waschküche für alle mit strengen Regularien, erzählte er augenzwinkernd. Doch im Vergleich zur «Spekulantenstadt» London, sei man in Schweden sehr weit und es gebe eine breite Palette kollektiver Nutzungen, lobte er.
Daniel Niggli wurde schliesslich nach den Schweizer Genossenschaften gefragt. Was lief historisch betrachtet anders, als im Ausland und ermöglichte diese? Niggli strich die politische Teilhabe der Hausbesetzerszene heraus. Niemand habe hierzulande nach den Jugendunruhen 1980 eine tiefe Frustration erfahren, vielmehr hätten die Akteure einen Weg durch die Institutionen beschritten, sich professionalisiert und inzwischen Verantwortung übernommen.

 

Architekturschaffende als Motoren politischer Weichenstellungen?
Doch welches Verhältnis besteht aktuell zwischen Politik und Architektur, geht es darum neue kooperative Wohnformen zu etablieren? Nachdem Angelika Fitz vom politischen Wohlwollen gegenüber der Baugruppen in Wien berichtete, fragte Ilka Ruby, ob es nun denn nicht von Architektenseite möglich sei, der Politik erfolgreich neue Vorschläge anzudienen? Doch die Diskussionsteilnehmer winkten ab: Der Gestalter sei das letzte Glied in der Entscheidungskette; wer verändern wolle, der müsse selbst politisch aktiv sein.
Andreas Ruby schloss die Debatte mit einer überaus interessanten, bei aller Euphorie kritischen Frage, die nun weiter zu verhandeln ist: Führt gemeinschaftliches Bauen wirklich zu mehr sozialer Egalität oder geraten Projekte zum hippen Lifestyle für ohnehin Privilegierte?

 

> Zum Thema des kollektiven Bauen und Wohnens lesen Sie archithese 2.2015 Architektur und Soziologie.

> Der Grat zwischen sozialem Mehrwert und Armutsschick kann schmal sein. raumlabors Saunaturm in Göteborg ästhetisiert partizipative Architektur.

> Am 6. und 7. Juni finden auf dem Zürcher Toni-Areal je ab 16.00 Uhr die Symposien «Open Space» und «Protostructure» statt. Sie adressieren die Rolle des Architekten bei der Ausgestaltung des Alltags: Wie viel Impuls oder Einmischung braucht es?

> Jørg Himmelreich führte 2014 ein Interview mit Müller Sigrist.

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