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Zirkelschlag zwischen den Zeiten

Mitten im Aufbruch der Moderne erinnert sich ein Pionier des Neuen Bauens an das geometrische Ideal der Renaissance. Sein Versuch, dieses mit dem Funktionalismus der Gegenwart zu vereinen scheitert jedoch. Vorerst. Eine Anekdote über den Verlust des Kreises.

 

Autor: Christoph Ramisch – 24.2.2020
Pläne: gta Archiv / ETH Zürich, Häfeli Moser Steiger

 

Die Form folgt der Funktion! So das Credo einer Generation junger Architekten, welche in den 1920er–Jahren des letzten Jahrhunderts die Zöpfe eines dekorativen Historismus kappte. Zweckerfüllung galt ihnen als das oberste Gebot jeder Bauaufgabe. Als Mitbegründer der Zürcher Architektengemeinschaft Haefeli Moser Steiger war Rudolf Steiger (1900-1982) nicht nur Teil dieser Generation, sondern aktiver Wegbereiter des Neuen Bauens in der Schweiz. Bereits 1924 erbaute er gemeinsam mit seiner Frau Flora Steiger-Crawford (1899-1991) das «Haus Sandreuter» in Riehen bei Basel. Ein Wohnhaus, welches Sigfried Giedion (1888-1968) nur wenige Jahre später als «das erste, konsequent formulierte Haus des Neuen Bauens auf Schweizer Boden» adelte und welches der funktionalistischen Architektur ebendort den Weg ebnen sollte.1

 

Rebellische Zeichnung
Umso mehr verwundert eine Zeichnung, welche Rudolf Steiger 1922, nur zwei Jahre vor dem Bau in Riehen, angefertigt hatte. Ein loses Blatt im Nachlass des Architekten zeigt den Grundriss eines Wohnhauses im Massstab 1:100 -  kreisrund gezeichnet! Um eine Halle als Mittelpunkt ordnen sich vier Kreise achsensymmetrisch in die ebenfalls runde Gesamtfigur. Um ein Achtel des Umfangs verdreht, schneiden sich vier weitere Kreise mit den vorherigen und bilden eine punktsymmetrische Figur aus insgesamt neun Räumen. Während diese die Wohnnutzungen aufnehmen, brechen weitere Zirkelschläge die spitzen Winkel der Verschneidungen und füllen sie mit Nebenräumen. Entgegen den Tendenzen der beginnenden 1920er Jahre und dem funktionalistischen Anspruch Steigers selbst, steht der klare Formwille dieser Zeichnung deutlich über der Nutzbarkeit des erdachten Grundrisses. Wie kam es, dass einer der Vordenker des Neuen Bauens eine solche Zeichnung im Jahr 1922 fertigte und diese gar als «Wohnhaus eines Architekten» betitelte?

 

Inspiration Palladio
Die Spur führt nach Vicenza: Im Mai 1920 lockte Karl Moser (1860-1936) seine Studierenden am Zürcher Polytechnikum nach Oberitalien, um die Bauten Andrea Palladios (1508-1580) zu studieren. In Vicenza angelangt, vermassen Rudolf Steiger und Flora Crawford – wie einst Palladio die antiken Ruinen – dessen Bauten und versanken darüber in einem Schönheitsideal, welches bis in die Zeichnung Steigers nachwirkte.2 Begeistert vom Palazzo dello Ragione und der Villa Almerico Capra (La Rotonda) übernahm Steiger für seinen Grundrissplan einen Gestaltungsansatz, der sich den Idealen der Renaissance ebenso zuwendete, wie er sich den Zielen des Neuen Bauens entzog. Angelegt als Zentralraum scheint die Zeichnung dabei nicht nur in ihrer symmetrischen Anordnung mit der Villa Rotonda verwandt. In der absoluten Geometrie des Kreises überhöhte Steiger eine Grundform, welches nicht signifikanter für das Formverständnis der Renaissance stehen könnte.

 

Ganzheit des Kreises
In ihrem humanistischen Weltbild entwickelte die Renaissance ein neues Verhältnis zu Natur und Religion. Als Abbild der kosmischen Ordnung rückten Kunst und Wissenschaft den Menschen ins Zentrum der Weltanschauung. In den Gesetzmässigkeiten seines Körpers erkannten sie die Perfektion der göttlichen Schöpfung. Zahlreiche Darstellungen der Vitruvianischen Figur übertrugen die antike Idealisierung des Kreises auf das Schönheitsideal der Renaissance. Vom Nabel aus geschlagen, umfährt der Kreis den menschlichen Körper passgenau – kosmische Harmonie, dargestellt in einer rein anthropomorphen Geometrie. Allseitig und richtungslos deutet sie auf ihr Zentrum und verkörpert zugleich die Unendlichkeit der umfahrenden Kontur, wobei jeder Punkt der endlosen Linie den identischen Abstand zum einenden Mittelpunkt hält. Diese Ganzheit aus Ursprung, Gleichheit und Ewigkeit galt Palladio als «bestens dazu geeignet, die Einheit, das unendliche Sein, die regelhafte Gleichförmigkeit und Gerechtigkeit Gottes darzustellen».3 Diese absolute, vollkommene, gottgleiche Form geriet zum geometrischen Ideal jeder Architektur und stillte das Verlangen der Baumeister jener Epoche nach einer ultimativen und universellen Gestaltungsregel. Eine Sehnsucht, die auch dem Neuen Bauen des beginnenden 20. Jahrhundert nicht unbekannt war.

 

Universeller Funktionalismus
350 Jahre nach der Villa Rotonda trat das Neuen Bauen wiederum an, die universelle Gestaltungsregel einer reinen Architektur zu suchen – und fand sie im Funktionalismus. Auch wenn Rudolf Steiger mit seiner Zeichnung gewillt war, die Ideale Palladios auf die Aufgaben einer neuen Zeit zu übertragen, musste dieser sentimental anmutende Versuch doch scheitern. Schon beim letzten Zirkelschlag war die Zeichnung bereits ein Anachronismus. Nur wenige Monate darauf veröffentlichte Le Corbusier (1887-1965) das Postulat einer modernen Ästhetik. Seine Schrift besiegelte das Primat der reinen Funktion.4 Ein Paradigmenwechsel, in dem der Kreis höchstens durch sein optimiertes Verhältnis von maximalem Inhalt bei minimalem Umfang gefallen konnte. Auf eine symbolhafte Aufladung jeglicher Geometrie verzichtete das Neuen Bauen kategorisch. Vollkommene Form bedeutete nicht mehr - sie funktionierte. Eine Maxime, welche auch Steigers Begeisterung für Vincenza vorerst kurierte. Im Jahr 1928 wurde er Gründungsmitglied des CIAM. In La Sarraz unterzeichnete er – unter Gründungspräsident Karl Moser – eine Erklärung, in der sich diese Gruppe fortschrittlicher Architekten selbst untersagte, «gestalterische Prinzipien früherer Epochen und vergangener Gesellschaftsstrukturen auf ihre Werke zu übertragen».5 Verdrängt, beinahe vergessen, erschien jene Faszination an den Bauten Palladios, der Steiger schon bald mit einer «Allergie gegen die von uns abgelehnte Renaissance Mentalität» begegnete.6

 

Sehnsucht nach Vicenza
Erst über dreissig Jahre später erinnerte sich Rudolf Steiger an die Erlebnisse in Vicenza zurück. Die Absichten, welche seiner Zeichnung damals zugrunde lagen, standen nun Pate für das «Haus Steiger» – sein eigenes «Wohnhause eines Architekten» – welches er mit Flora Steiger-Crawford 1959 an der Zürcher Bergstrasse errichtete. Acht Wohnräume, in symmetrischer Anordnung, um eine überhohe Mitte samt Oberlicht gruppiert, stellten eine finale Hommage an Palladios Villa Rotonda dar und brachten die Idee seiner Zeichnung zu einem späten und erfolgreichen Ende. Sein Ansinnen aus dem Jahr 1922 gelang ihm schlussendlich im eigenem Heim. Die räumlichen Vorbilder der Renaissance schienen hier mit dem Funktionalismus des Neuen Bauens mühelos vereinbar – allein der Kreis blieb auf der Strecke.

 

1 Sigfried Giedion, «Neues Bauen. Die Wanderausstellung des Deutschen Werkbundes im Kunstgewerbemuseum», in: NZZ Nr. 68, 14.11.1928.
2 Vgl: Marianne Burkhalter / Gret Loewensberg, Flora Steiger-Crawford 1899–1991, Zürich 2003, S. 46–48.
3 Andrea Palladio, Die vier Bücher zur Architektur, Basel 1995, S. 274.
4 Le Corbusier, Vers Une Architecture, Paris 1923.
5 Erklärung von La Sarraz 1928, in: Ulrich Conrads (Hg), Programme und Manifeste des 20. Jahrhunderts, Basel 2001, S. 103.
6 Rudolf Steiger, Erinnerungen an Max Ernst Haefeli (Manuskript), gta Archiv.

 

Christoph Ramisch ist Architekt und freier Autor. Er studierte Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar und beendete 2016 das MAS-Programm «Geschichte und Theorie der Architektur» am Institut gta der ETH Zürich. Als Gastdozent an der Hochschule Luzern begleitet er seit 2018 Studierende beim Verfassen eigener Texte über Architektur.
 

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