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Säkulare Wallfahrt?

Wie sieht katholische Architektur anno 2018 aus? Mit dem Beitrag Vatican Chapels an der diesjährigen Architekturbiennale von Venedig profiliert sich der Heilige Stuhl als experimentierfreudiger Bauherr. Nach nordischem Vorbild bietet er eine Neuinterpretation des Gebäudetypus «Kapelle» an. Entstanden ist eine überraschend frische Schau.

 

Text: Frida Grahn – 14.6.2018
Fotos: Alessandra Chemollo

 

Suche nach neuen Formen
In einem schattigen Waldstück auf der Südseite der Insel San Giorgio Maggiore zieht ein sanfter Wind durch die Pinien. Umflossen vom Wasser der Lagune wurden hier im Auftrag des Heiligen Stuhls und kuratiert von Casabella-Redaktor Francesco Dal Co zehn Kapellen sowie ein Ausstellungspavillon errichtet. Letzterer fällt dem Besucher sofort ins Auge, ragt er doch steil in die Höhe und erinnert mit seiner Schindelhaut an eine abstrahierte norwegische Stabkirche. Entworfen hat ihn allerdings das venezianische Team MAP Studio. Im Inneren wird der Stockholmer Waldkapelle von Gunnar Asplund gedacht. Dal Co wählte diese Referenz aus dem Jahr 1920, um zehn international tätige Architekturbüros zum Nachdenken über den Gebäudetypus «Kapelle» anzuregen. Was meint also dieser Begriff genau? Im katholischen Sprachgebrauch umschreibt er meist einen spezifischen Teil einer grösseren Kirche (etwa eine Seitenkapelle) oder eines herrschaftlichen Gebäudes (beispielsweise eine Familienkapelle). Im nordischen Raum hingegen wird dieser Typus eher als freistehende Architektur verstanden. Asplunds Waldkapelle – von der Dichte italienischer Städte weit entfernt – zeugt von einer fast symbiotischen Beziehung zur Natur. Im Biennale-Beitrag des Vatikans wird das nordische Kapellenmodell nun im italienischen Umfeld erprobt. Gleichzeitig wird ein sonst der Öffentlichkeit verschlossener Park als Freespace inszeniert.

 

Fulminante Premiere
Bei seiner ersten Teilnahme an der Architekturbiennale von Venedig wollte der Stadtstaat eine möglichst grosse Vielfalt bauen. Papst Franziskus fordert, so liest man auf vaticannews.va, «die neuen Formen der Schönheit in den verschiedenen kulturellen Bereichen zu nutzen, um das Wort Gottes weiterzugeben». Der Parcours zu den zehn Kapellen und die sakralen Werke selbst funktionieren aber nicht nur im geistlichen Sinne, sondern auch als «säkulare Wallfahrt», sagt Kardinal Gianfraco Ravasi, Präsident des Päpstlichen Kulturrats. Vereint sind die einzelnen Beiträge durch liturgisch relevante Gebäudeteile: den Altar zur Feier des Abendmahls und die Kanzel für die Heilige Schrift und Predigt. Das ist aber auch schon der kleinste gemeinsame Nenner. Entstanden ist nämlich eine Schau, die eindrücklich mit architektonischem Reichtum auftrumpft.

 

Goldene Mitte
Im geschraubten Stahlbau des australischen Architekten Sean Godsell fällt das Tageslicht durch einen hohen, goldeloxierten Turm auf den Opfertisch. Das Möbel erinnert aufgrund seiner industriellen Materialisierung an eine Arbeitsbank – und gleicht ebenso einer exklusiven Küche im Freien, die einen Blick auf die Anlage des mondänen Hotel Cipriani offenbart. Auch der Italiener Francesco Cellini hat in seinem Beitrag den Altar zentral platziert. Integriert in einem stehenden Rahmen, ragt er aus seinem liegenden Pendant heraus. Die miteinander verschränkten Elemente sind innen mit weissen, grossformatigen Keramikplatten bekleidet, wodurch sich darin das Grün der Umgebung spiegelt.

 

Spiel mit christlicher Symbolik
Natürlich taucht auch immer wieder das Kreuz auf. Bei Norman Foster etwa stützt es die filigrane Struktur seines Baus. Einzelne Holzlatten sind aneinandergereiht und formen einen mehrfach gefalteten, offenen Raum. Wer später im Jahr zurückkehrt, kann das fertiggestellte Werk erleben: Dann wird die luftige Gartenkathedrale nämlich mit duftenden Jasminranken überwachsen sein. Der Beitrag des britischen Architekten ist ein work in progress und gedeiht mit der Natur. Auch im archaisch anmutenden Steinbau von Eduardo Souto de Moura, der wie Foster mit dem Pritzkerpreis geehrte wurde, ist das Kreuz erkennbar. Es erscheint als feiner Schlitz in einem der mannshohen Natursteinen. Im radikalen Werk der brasilianischen Architektin Carla Juaçaba spielt das wichtigste Symbol des Christentums schliesslich die Hauptrolle: Die reduzierte Figur aus einem stehenden und einem liegenden Kreuz besteht aus spiegelpoliertem Chromstahl. Es nimmt den Ort in sich auf und lässt ihn flimmern wie eine Fata Morgana. Durch den Verzicht auf eine gebäudeähnliche Struktur wird der Park selbst zum Kirchenraum.

 

Rätselraten
Mit einem unergründlichen Beitrag wartet das Architektenduo Eva Prats & Ricardo Flores auf. Entlang eines Kieswegs platzierte es eine rot verputzte Mauer, die von einer segmentbogenartigen Passage durchbrochen wird. Tritt der Besucher hindurch und wechselt zur anderen Gebäudefront, so steht er vor einer einseitig ausgerichteten Figur, welche sich öffnet und vermeintlich keinen Raum umschliesst. Auf dieser «Innenseite» haben die beiden Katalanen eine weiss gewölbte Nische herausgearbeitet, die mit scheinbar zufällig organisierten Bauelementen versehen ist. Die kräftige Mauer mutet ein wenig wie eine sauber verputzte Ruine an. Daher kann sie auch als Gebäudefragment oder Seitenkapelle interpretiert werden.

 

Eine Kapelle als Freespace?
Die von raffinierter Eleganz geprägten Projekte grenzen in ihrer Reduktion an begehbare Skulpturen. Als Orte für erhöhte Aufmerksamkeit und Kontemplation funktionieren die meisten herausragend, doch sollen sie auch eine Botschaft des Vatikans vermitteln: Entsprechende Symbole laden die architektonischen Artefakte religiös auf. Wenn nun Freespace im Sinne der beiden Biennale-Kuratorinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara als «un-programmed space» zu verstehen ist, trifft dies auf die Kapellen aber nicht zu. Sie sind nicht «frei», obwohl den Architekten viel Spielraum gewährt wurde. Unbesetzt ist vielmehr der angrenzende Wald, mit dem die christlich konnotierten Räume oftmals in einen spannenden Dialog treten.

 

Oase
Gerade in der Hochsaison und um die Eröffnungstage der Biennale herrscht in Venedig eine Reizüberflutung, zu der touristische, historische und kulturelle Ströme gleichermassen beitragen. Die Insel San Giorgio Maggiore gegenüber dem Markusplatz stellt hier eigentlich keine Ausnahme dar: Palladios Basilika wie auch das Benediktinerkloster locken die Menschen in Scharen an. Doch der rückwärtige Park der Fondazione Giorgio Cini kann sich fast schon als ein arkadisches Gefilde behaupten. Das Bespielen des Gartens bietet nun die seltene Möglichkeit, sich an der Biennale realer Architektur mit allen Sinnen zu widmen. Entstanden ist nämlich eine Sammlung, die sich als Pendant zu den Länderpavillons in den Giardini mehr als behaupten kann.

 

Der Beitrag des Vatikans zur 16. Architekturbiennale von Venedig kann noch bis zum 25. November 2018 auf der Insel San Giorgio Maggiore besichtigt werden.

 

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